Mondfall
Ausschnitt aus dem ersten Tag in Elydion, geschrieben von Mike.
Mike und Chris rennen durch den Wald, atemlos, noch unter Schock. Sie sind den Orcs wie durch ein Wunder entkommen – doch die Abenddämmerung bricht herein, und sie müssen unbedingt die Zivilisation erreichen …
***
Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, öffnete sich der Wald vor uns. Die Sonne hing da schon tief am Horizont und ihr Licht drang kaum mehr durch die Baumkronen. Wir standen auf einer Anhöhe, die einen beeindruckenden Blick auf eine weite Ebene freigab, übersät mit Ackerfeldern und vereinzelten Bauernhöfen. Was uns aber den Atem raubte, war die mittelalterlich wirkende Stadt, die im letzten Tageslicht vor uns in der Ebene lag. Sie hatte eine gewaltige Stadtmauer, die sich schützend um die Häuser legte, und aus ihrer Mitte ragte ein hoher, eleganter Turm weit in den Himmel, dessen Spitze in der roten Sonne erglühte. Flaggen von einem noch tieferen Rot zierten die Mauern und Gebäude und wehten im Abendwind. Weiße Vögel umkreisten den Turm, ihre Flügel blitzten im Sonnenschein. Dahinter lag ein riesiger See oder womöglich ein Meer.
„Wo verdammt sind wir hier?“, fragte Chris fassungslos.
„Keine Ahnung“, antwortete ich, den Blick auf die Stadt gerichtet. „Aber wir müssen dort rein. Ich denke nicht, dass wir eine Wahl haben.“
Chris nickte, doch sein Gesichtsausdruck blieb düster. „Wo sind wir hier nur hingeraten?“
„Denk positiv“, sagte ich, bemüht, Optimismus in meine Stimme zu legen. „Das hier sieht immerhin aus wie … Zivilisation.“
Er lächelte müde und wir liefen den Hang hinunter bis zu einer etwas verwahrlosten Straße, die auf das massive Stadttor zuführte.
Als wir näher kamen, erkannten wir Wachen in Kettenhemden, die mit Hellebarden bewaffnet waren. Sie schienen sich gerade darauf vorzubereiten, das schwere Tor für die Nacht zu schließen. Wir waren aber vor allem erleichtert, weil es sich um Menschen handelte.
Als uns die Dringlichkeit der Situation bewusst wurde, begannen wir zu rennen. Unsere zerlumpte Erscheinung war anscheinend wenig vertrauenerweckend, denn die Wachen sahen uns heraneilen und hoben sofort ihre Waffen.
„Woher kommt ihr?“, bellte einer der Männer. Er war vielleicht um die fünfzig, sein Gesicht unrasiert, verschwitzt und mit einem Blick, der besagte, dass er keine Geduld für Dummheiten hatte. „Zeigt eure Ausweise!“
„Bitte lassen Sie uns rein, wir brauchen Hilfe!“, sprudelte es aus Chris heraus und seine Stimme überschlug sich fast. „Wir sind nicht von hier, haben uns verlaufen und wurden von … grünen Monstern gefangen genommen. Bitte, helfen Sie uns!“
Die Wache hob eine Augenbraue und musterte uns skeptisch. „Eine dümmere Ausrede ist euch nicht eingefallen?“ Seine Stimme war voller Hohn. „Ihr wollt uns weismachen, dass ihr zwei von Orcs gefangen genommen wurdet und es überlebt habt?“
Eine andere Wache trat hinzu und nickte grimmig. „Abführen, zum Kommandanten!“
Bevor wir etwas einwenden konnten, wurden wir durch das Tor geschleust. Hinter uns donnerte es zu und wurde mit großen Querstreben verriegelt. Die Wachen eskortierten uns zu einer Garnison, die gleich neben dem Stadttor stand.
Während wir mit einer Hellebarde im Rücken durch stickige Gänge geführt wurden, beugte sich Chris zu mir und flüsterte trocken: „Denk positiv?“ Die beiden Worte trieften vor Sarkasmus, aber ich konnte nichts erwidern. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich die Hosen gestrichen voll.
Wir wurden dem Wachkommandanten vorgeführt, der uns als Relair von Hayl vorgestellt wurde. Er war jung, gut gekleidet, und die Art, wie er auf seinem Stuhl lümmelte, mit den polierten Stiefeln auf dem Tisch, ließ keinen Zweifel daran, dass er sehr von sich eingenommen war. Sein säuberlich gestutzter Schnurrbart und der gelangweilte Blick erweckten den Eindruck, dass er seinen Posten möglicherweise weniger durch eigenes Können als über persönliche Beziehungen erhalten hatte. Er schien genervt, als wir hereingebracht wurden, als hätten wir ihn bei etwas Wichtigem unterbrochen – obwohl er offensichtlich nichts zu tun hatte.
Die Wachen berichteten ihm, was wir am Tor gesagt hatten. Sein Blick verfinsterte sich.
„Name und Herkunft?“, fragte der Kommandant mit schleppender, beinahe abwesender Stimme.
Als wir ehrlich antworteten, blitzte mehr als nur ein Funken Verärgerung in seinen Augen auf. „Diese Orte gibt es nicht. Ihr nehmt mich wohl nicht ernst? Wisst ihr, wer ich bin?“
Panik stieg in mir auf. Wir mussten schnell handeln. „Wir sind Gehilfen eines fahrenden Händlers, von dem wir getrennt wurden“, platzte ich heraus. „Dann wurden wir von diesen grünen Bestien überfallen und mussten um unser Leben rennen.“
Relair lehnte sich vor, jetzt schien sein Interesse geweckt. „Orcs?“, fragte er mit einer Mischung aus Neugier und Skepsis.
„Ja, genau!“, rief ich erleichtert.
„Und wo genau wurdet ihr überfallen?“ Seine Stimme klang nun schärfer.
„Im Wald, auf der Straße hierher. Sicher mehr als eine Stunde entfernt, wenn man von der Stadt aus links abbiegt“, erklärte ich, versuchte dabei irgendwie, ruhig zu bleiben.
Der Kommandant musterte uns mit durchdringendem Blick. Plötzlich fixierte er meine Hände, die immer noch den Beutel der alten Schamanin umklammerten.
„Was ist das? Hergeben!“, befahl er.
Widerwillig reichte ich ihm den Beutel. Ein ungutes Gefühl kroch mir den Rücken hoch, aber ich wusste, wir hatten keine Wahl.
Er öffnete den Beutel und zog eine der Münzen heraus. Der Anblick des Goldes schien ihn zu fesseln. „Ist dies euer Geld?“, fragte er mit einem gefährlich ruhigen Ton.
„Ja“, bestätigten wir beide gleichzeitig mit ungutem Gefühl.
„Dieser Beutel, junge Herren, ist traditionelle orcische Handwerkskunst“, sagte er dann langsam, fast genießerisch und drehte den Beutel in seinen Händen. „Wollt ihr behaupten, die Orcs hätten ihn euch geschenkt?“
Chris und ich tauschten Blicke, unsere Gesichter fahl vor Schreck. Wir saßen in der Falle.
Zu unserem Entsetzen befahl er dann der Wache: „Abführen und intensiv befragen.“
Eine der Wachen zögerte. „Aber der Folterknecht ist bestimmt schon in die Stadt gegangen.“
„Dann holt ihr ihn eben wieder her“, knurrte Relair, der sichtlich die Geduld verlor.
In diesem Moment krachte es laut in einem Nebenraum, und alle zuckten zusammen.
Der Kommandant schloss genervt die Augen, rieb sich die Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger. „Ich hasse es, wenn er das macht …“, murmelte er. Offenbar war ihm dieses Szenario vertraut.
Die Tür flog auf, und ein stolz aussehender, älterer Mann stolperte in den Raum, gekleidet in eine edle Robe. Seine Augen funkelten dunkel.
„Kommandant, ich habe einen äußerst wichtigen Auftrag vom König persönlich!“, donnerte der Mann.
Sein Blick fiel auf uns und unsere Kleidung. Seine Miene veränderte sich schlagartig.
„Was? Ihr habt sie schon gefunden?“ Die Überraschung in seiner Stimme war unverkennbar.
„Ja, er wollte uns gerade foltern lassen“, informierte Chris ihn mit kaum verhohlener Erleichterung.
Der Kommandant rollte nur mit den Augen. „Lord Hampfild …“, begann er, doch der Mann unterbrach ihn scharf: „Alle raus hier! Ich muss mit den Fremden allein sprechen. Sie stehen unter königlichem Schutz.“
Die Wachen und der Kommandant verließen hastig den Raum, ohne zu protestieren. Der ältere Lord ließ sich auf einen Stuhl fallen und atmete tief durch.
„Verzeiht mir“, sagte er schließlich, „aber diese verdammte Teleportationsmagie bringt mich jedes Mal durcheinander.“
Chris und ich standen vor ihm, nicht sicher, was wir von diesem Mann halten sollten.
Er musterte uns eingehend und lächelte dann zufrieden. „Unglaublich, das Ritual hat funktioniert!“
„Ritual?! Wissen Sie, was mit uns passiert ist?“, fragte Chris, der seine Ungeduld kaum zügeln konnte.
Lord Hampfild nickte. „Wie viele seid ihr?“, fragte er.
Chris und ich schauten uns ratlos an.
„Was? Nur ihr zwei?“, schlussfolgerte Hampfild und Sorgenfalten legten sich über sein Gesicht.
„Was soll das heißen?“, fragte Chris ungehalten. „Was ist hier los? Stecken Sie hinter all dem?“
Hampfild vollführte eine beschwichtigende Geste mit der Hand. „Dies hier ist nicht der richtige Ort und die richtige Zeit, um all dies zu besprechen. Wir wussten nicht, wo ihr ankommen würdet, doch als es geschah, konnten wir es spüren. So mächtig war das Ereignis. Ich bin der Einzige mit der Gabe der Teleportationsmagie, also bin ich sofort hergekommen. Was zählt, ist, dass ihr in Sicherheit seid.“
Ein wenig beruhigten mich seine Worte. Zumindest er schien zu wissen, was hier abging. „Und wo sind der richtige Ort und die richtige Zeit?“, fragte ich bissig.
„Ihr müsst so schnell wie möglich zum König“, sagte Hampfild. „Besorgt euch lokale Kleidung und Waffen…“
„Waffen?“, unterbrach ihn Chris mit bleichem Gesicht.
„Ihr könnt nicht mit Waffen umgehen?“, fragte Hampfild und hob erstaunt eine Augenbraue. Als wir beide den Kopf schüttelten, runzelte er die Stirn, schloss für einen Moment die Augen und nickte dann langsam. „Hmmm, immerhin scheint ihr über eine starke Affinität für Magie zu verfügen … Das ist ein Hoffnungsschimmer.“
Wir schauten uns wieder ratlos an. „Hoffnungsschimmer“ klang nicht gerade ermutigend.
„Alles Weitere klären wir beim König“, sagte er bestimmt und stand auf. „Ihr müsst reiten, ich aber muss sofort Bericht erstatten und nehme den schnellen Weg.“ Er deutete auf die Türe, aus der er gekommen war. „Vertraut niemandem und sagt keinem Menschen, woher ihr wirklich kommt!“, ermahnte er uns.
„Kommandant!“, rief er, bevor wir weitere Fragen stellen konnten, und Relair eilte herein.
„Diese Jungs müssen zum König. Sie sollen übermorgen mit dem regulären Posttransport mitgehen. Stellt ihnen zwei Pferde zur Verfügung sowie zwei Wachen, die sie mit ihrem Leben beschützen. Gebt ihnen eine Landkarte und hundert Goldsnakes aus der königlichen Kasse. Sie sollen so lang im Bienenhof untergebracht werden.“
Der Kommandant nickte knapp, aber sein Gesicht sprach Bände des Unmuts.
Hampfild war schon auf dem Weg zur Tür, als wir protestierten: „Aber…?“
„So schnell wie möglich!“, wiederholte er eindringlich, bevor er verschwand.
„Ihr habt’s gehört“, brummte der Kommandant an eine Wache gewandt. „Nimm diese Jungs mit und erledige das.“
Chris schnappte sich schnell den Beutel mit dem Gold vom Tisch und wir folgten der Wache hinaus. Wir hörten noch, wie der Kommandant hinter uns murmelte: „Am liebsten würde ich einen Tisch in diesen verdammten Teleportationsraum stellen, dann haben wir nächstes Mal einen Lord Tischfild …“ Ein erzwungenes Lachen erklang.
Die Wache erwies sich als angenehm und freundlich. Der Mann besorgte uns eine handgezeichnete Landkarte und führte uns zum Säckelmeister, der uns die einhundert Goldstücke aushändigte. Schließlich erklärte er uns den Weg zur Herberge und ermahnte uns, die Stadt keinesfalls vor dem Aufbruch des Transports zu verlassen.
„Willkommen in Mondfall“, sagte er noch, bevor er uns allein auf der Straße zurückließ.
Trotz Abenddämmerung herrschte noch ein reges Leben auf den Straßen: Geschäftsleute, die aufgeregt miteinander sprachen, Mägde mit Einkaufskörben, ein Händler, der seinen zusammengeklappten Marktstand hinter sich her zog, Kinder, die einen Hund jagten. Es war eine unglaubliche Szene, wie im Mittelalter, und doch so real.
Willst du wissen, was als Nächstes passiert?
“Was als rätselhafte Reise beginnt, wird der Auftakt zum Kampf um Vertrauen, Loyalität – und um die Frage, wer sie wirklich sind. Oder die Beiden sein müssen.”
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